"Die Kinder müssen wieder in den Mittelpunkt!"
Starke Rahmenbedingungen für starke Pflegekinder.
Im Bistum Münster beraten, schulen und begleiten aktuell 20 freie katholische Träger Pflegefamilien im Rahmen von Vollzeitpflege und/oder Bereitschaftspflege. Im Jahr 2022 sind es 12071 Kinder, die in Pflegeverhältnissen leben und für ein gelingendes Aufwachsen die Absicherung ihrer Bedürfnisse sowie Annahme, Versorgung, Unterstützung, Schutz und Orientierung durch ihre Pflegeeltern erfahren.
Die Träger sind im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Erziehungshilfen in der Diözese Münster (AGE) vernetzt und setzen sich für die Belange von Pflegekindern sowie eine wertschätzende, starke und zeitgemäße Kooperation auf Augenhöhe mit den Pflegefamilien ein.
Um insbesondere vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels als eine feste Säule der Kinder- und Jugendhilfe verstanden zu werden, müssen Pflegeverhältnisse zukünftig wieder an Attraktivität und Sicherheit gewinnen.
Kinder, die dauerhaft nicht in ihrer Herkunftsfamilie leben, brauchen Pflegefamilien, die kontinuierlich und zeitgemäß ausgestattet und unterstützt sind. Pflegefamilien bieten nicht nur eine kostengünstigere Alternative zu stationären Wohnformen, sondern ermöglichen in der Regel eine engere Begleitung, welche die Entwicklung von Bindung und psychischem Wohlbefinden unterstützen. Die Anforderungen an heutige Pflegefamilien haben sich verändert, was nicht zu Lasten der Kinder gehen darf. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Sicherstellung des Kindeswohls für uns als Staat und Gesellschaft - und wir benötigen deutlich mehr von ihnen!
Um dies zu gewährleisten, sind aus unserer Sicht die folgenden Aspekte unerlässlich:
1. Pflegefamilien dürfen finanziell nicht zurückstecken müssen!
Pflegefamilien müssen sowohl bei der Altersvorsorge als auch bei einem Verzicht auf Berufstätigkeit, was häufig die Frauen trifft, finanziell abgesichert sein. Aufgrund von wiederholten und intensiven Bindungsabbrüchen sind Pflegekinder häufig seelisch verletzt und bringen ihre eigene Geschichte mit. Sie benötigen unter allen Widrigkeiten die Chance, eine starke und sichere Bindung zu ihren Pflegeeltern aufbauen zu können.
Die Pflegefamilien müssen sich flexibel und uneingeschränkt den individuellen Bedürfnissen der Kinder anpassen können, ungetrübt von möglichen Zukunftsängsten. Dies erfordert die Zahlung von Elterngeld oder einer vergleichbaren Leistung, die Pflegeeltern nicht verwehrt werden darf. In diesem Kontext unterstützen wir den kürzlich im schleswig-holsteinischen Landtag eingegangenen Antrag aller Fraktionen für einen geregelten Anspruch auf Elterngeld, der dringlichst auf Bundesebene geprüft werden sollte.2
2. Pflegeeltern als feste Säule im Jugendhilfesystem!
Pflegeeltern sind die Expert*innen für die Bedarfe und Bedürfnisse der Kinder. Die Fachkräfte in den Diensten und Einrichtungen stehen ihnen im Rahmen des gesetzlichen Anspruchs nach §37 SGB VIII stetig zur Seite und nehmen sie in ihrer professionellen Rolle ernst.
Die Kinder und ihre Familien benötigen ein funktionierendes Netzwerk aus Erzieher*innen, Lehrkräften, Ärzt*innen, Therapeut*innen, Vormund*innen etc., damit ihre Bedarfe individuell und entwicklungsgerecht abgedeckt werden können. Wir fordern einen differenzierten und bedürfnisorientierten Blick auf das Kind, wobei Pflegeeltern als gleichwertige Kooperationspartner*innen auf Augenhöhe anerkannt werden. Pflegeeltern sollten weder um die Durchsetzung ihrer Leistungsansprüche noch um den verständnisvollen Umgang mit ihren Kindern kämpfen müssen!
3. Auftanken ist Prävention!
Um sich den Herausforderungen des Alltags stellen zu können, brauchen Pflegeeltern ausreichende und passgenaue Regelangebote zur Entlastung - mit und ohne Kinder. Diese Art der Prävention muss durch einen unkomplizierten und schnellen Zugang gewährleistet werden. Erforderlich ist daher, wie sich bereits in einigen Kommunen als praktikabel erwiesen hat, ein auskömmlicher und über die Träger abrufbarer Etat für die Entlastungsangebote.
4. Auf eigenen Beinen stehen braucht enge Begleitung!
Der Unterstützungsbedarf für Pflegekinder endet nicht mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter. Das Statistische Bundesamt meldet für das Jahr 2022 beim Auszug aus dem Elternhaus ein Durchschnittsalter von 24,5 Jahren bei Männern und 23 Jahre bei Frauen.3 Von Kindern, die überwiegend schwere Bindungsabbrüche und seelische Verletzung erfahren haben, erwarten wir vor diesem Hintergrund deutlich zu viel, wenn die Jugendhilfe mit 18 oder auch 21 Jahren enden soll. Es ist erforderlich, dass Pflegeeltern und -kinder auch während des Übergangs in die Selbstständigkeit angemessen und interdisziplinär begleitet werden. Dies beinhaltet die Bereitstellung von Ressourcen und Unterstützungsmöglichkeiten gemäß §41 des SGB VIII, was in Teilen leider noch immer mit hohen Anforderungen und bürokratischen Hürden verbunden ist. Es braucht somit in jeder Kommune entwicklungsgerechte und handlungsfeldübergreifende Konzepte sowie einen sensiblen Umgang mit der Familie, um den Übergang so reibungslos wie möglich zu gestalten und den Pflegekindern einen erfolgreichen Start in ein eigenständiges Leben zu ermöglichen.
5. Qualität und Fachlichkeit braucht auskömmliche Finanzierung!
Es bedarf einer angemessenen finanziellen Ausstattung, um die Qualität und Kontinuität der Pflegeverhältnisse sicherzustellen. Dies beinhaltet eine angemessene und regelmäßige finanzielle Gegenleistung für Pflegeeltern sowie die Bereitstellung finanzieller Ressourcen für Schulungen, Supervision und weitere unterstützende Maßnahmen.
Die Relevanz von Pflegefamilien im System der Kinder- und Jugendhilfe muss in den öffentlichen Haushaltsplänen angemessen reflektiert und berücksichtigt werden. Das schließt die transparente und auskömmliche Zuweisung von finanziellen Mitteln für die Akquise, Beratung, Schulung und Begleitung durch die Träger ein. Insbesondere unsere kleineren Dienste und Einrichtungen sind für viele Familien wichtige Anlaufstellen, die zur Erfüllung des Wunsch- und Wahlrechts im Rahmen der Trägervielfalt beitragen.
Um daher weiterhin qualitativ hochwertige Angebote der Akquise, Begleitung und Beratung dieser Familien, vor dem Hintergrund stark wachsender Ressourcenknappheit4 bei gleichzeitig steigenden Anforderungen5, vorhalten zu können, bedarf es einer auskömmlichen und gesicherten Ausstattung in unseren Diensten.
6. Weiterentwicklung und Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern!
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass öffentliche und freie Träger in der Pflegekinderhilfe ihre fachlichen Standards überregional abstimmen und koordinieren. Diese umfassen zum einen die Umsetzung gesetzlicher Anforderungen, jedoch zum anderen auch die einheitliche Abstimmung von Qualitätsstandards und Kriterien für z.B. Abrechnungssystemen, Betreuungsschlüsseln oder Gewährung von Beihilfen6 unter den Jugendämtern.
Dies trägt zu einer konsistenten und hochwertigen Versorgung der Pflegekinder bei, unabhängig von der Region des Trägers, und fördert eine effektive Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren im Kinder- und Jugendhilfesystem.
Zusammenfassend geben wir die folgenden Empfehlungen zur Steigerung der Qualität und Sicherung der Existenz von Pflegeverhältnissen als feste Säule im Kinder- und Jugendhilfesystem:
• Bundesweite Berücksichtigung von angemessenen Beiträgen zur Altersvorsorge für Pflegeeltern sowie Zahlung von Elterngeld oder anderen analogen Leistungen!
• Unkomplizierter Zugang zu niedrigschwelligen Entlastungsangeboten im Sozialraum der Familie, bspw. durch die Bereitstellung eines abrufbaren Etats in den Kommunen!
• Entwicklung handlungsfeldübergreifender Konzepte für die Begleitung und Unterstützung für den Übergang in die Selbstständigkeit! 7
• Die Berücksichtigung finanzieller Unterstützung für freie Träger in den öffentlichen Haushalten auf allen Ebenen!
• Stärkere Kooperation zwischen freien und öffentlichen Trägern zur Sicherung eines einheitlichen Qualitätsstandards zu Gunsten der Pflegekinder und deren Familien!
Es ist an der Zeit, dass Pflegefamilien die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, um die Kinder wieder in den Mittelpunkt zu rücken und ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen: Starke Rahmenbedingungen für starke Pflegekinder!
Quellen:
1 Statistik 2022 des Diözesancaritasverband Münster e.V.
2 verfügbar unter: https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl20/drucks/01800/drucksache-20-01876.pdf
3 vgl. Statista, April 2023:" Durchschnittsalter junger Menschen beim Verlassen des elterlichen Haushalts nach Geschlecht in der EU im Jahr 2022."
4 meint z. B. Auswirkungen des Fachkräftemangels, Kürzungen durch Tarif- und Energiekostensteigerungen etc.
5 meint gesetzliche (z.B. Konzipierung von Schutzkonzepten) und gesellschaftliche Anforderungen (z.B. wachsender Bedarf an intensiverer Fallarbeit, Hilfeplanung etc.).
6 meint z.B. Zuschüsse für Klassenfahrten, Kosten für Erstausstattung und Kontakte in der Anbahnungsphase.
7 meint z.B. Runde Tische und Kooperationen mit Behörden, Schulen, Wohngenossenschaften, Jugendämtern, Beratungsstellen etc.